Die enzische Sprache (in Eigenbezeichnung Enets) ist eine der samojedischen Sprachen. Diese bilden gemeinsam mit den finno-ugrischen Sprachen die uralische Sprachfamilie.[1][2] Es gehört wie Nenzisch und Nganasanisch zur Gruppe der nordsamojedischen Sprachen.[2][3] Es gibt zwei Varianten des Enzischen, die manchmal als eigene Sprachen gewertet werden: Wald-Enzisch (auch Baj oder Mugadi) und Tundra-Enzisch (auch Maddu oder Somatu).[4][5] In der jüngeren Vergangenheit wurde es durch das Russische beeinflusst.

Enzisch

Gesprochen in

Autonomer Kreis Taimyr/Russland
Sprecher 70
Linguistische
Klassifikation
Sprachcodes
ISO 639-3

enf (Wald-Enzisch)[6], enh (Tundra-Enzisch)[7]

Geographie

Enzisch wird vom Volk der Enzen auf der Taimyrhalbinsel in Norden Sibiriens entlang des Ostufers des Flusses Jenissei in Russland gesprochen.[4]

Demographie

Die Zahl der Muttersprachler beträgt heute weniger als 70 mit leichtem Überhang des Bai-Dialekts. 1999 lebten etwa 200 Enzen, von denen ungefähr 100 Enzisch sprachen. Im 18. Jahrhundert soll Enzisch mit über 3000 Sprechern seinen Höchststand erreicht haben. Alle heute noch lebenden Enzen sprechen ebenfalls Russisch und/oder Nenzisch, teilweise auch Nganasanisch.

Da sich Russisch immer mehr als Sprache durchsetzt und kaum noch Kinder Enzisch lernen, gibt es keine Hoffnung, das Überleben der Sprache zu sichern. Die Enzen verfügten niemals über eine eigene Schriftsprache, in den Schulen wurde nie auf Enzisch gelehrt. Bis heute existiert keine vollständige Grammatik des Enzischen.

Phonologie

Wald-Enzisch

Wald-Enzisch hat 6–7 Vokale:[8]

vorne hinten
geschlossen i u
halb-geschlossen e o
halb-offen æ (ɔ)
offen ɑ

Laut Siegl ist umstritten, ob /ɔ/ von /u/ und /o/ unterschieden wird.[8] Die Vokallänge wird im Wald-Enzischen unterschieden.[8]

Das Konsonanten System ist nach Siegel wie folgt:[8]

bilabial dental alveolar postalveolar palatal velar glottal
stl sth stl sth stl sth stl sth stl sth stl sth stl sth
Plosive p b, (bj) t d, dj k g ʔ
Frikative ð s ʃ x
Afrikative
Nasale m n, nj ŋ
laterale Approximanten l, lj
Approximanten j
Vibranten r, (rj)

Die Form der palatisierten alveolaren Konsonanten ist umstritten.[8] So analysiert Künnap die palatisierten alveolaren und die postalveolaren Konsonanten als palatale Konsonanten.[9]

Tundra-Enzisch

Tundra-Enzisch hat ein ähnliches phonologisches System. Unter den Vokalen fehlt nur der Vokal /æ/:[8]

vorne hinten
geschlossen i u
halb-geschlossen e o
halb-offen (ɔ)
offen ɑ

Wie im Wald-Enzischen ist der Status von /ɔ/ nach Siegl umstritten. Die Vokallänge wird ebenfalls unterschieden.[8]

Laut Siegl ist das Konsonantensystem des Tundra-Enzischen noch schlecht erforscht. Er hat 2022 folgendes vorgeschlagen, schreibt aber, dass dieses noch einmal überarbeitet werden müsse.[8]

bilabial dental alveolar palatal velar glottal
stl sth stl sth stl sth stl sth stl sth stl sth
Plosive p b t, tj d, dj k g ʔ
Frikative (f) ð s, sj x
Nasale m n, nj ŋ
Approximanten j
Vibranten r

Phonologische Prozesse

In manchen Suffixen sind Vokale unterspezifiziert. In diesen Fällen werden die Vokalqualitäten des letzten Vokals des Wortstamms übernommen (siehe auch Vokalharmonie). Dies ist z. B. im Lokativ-Singular-Suffix des Wald-Enzischen /-xVn/ erkennbar:[10]

  • [tu] „Feuer“ → [tuxun] „im Feuer“,
  • [sirɑ] „Schnee“ → [sirɑxɑn] „im Schnee“.

Wenn Wörter auf den glottalen Plosiv /ʔ/ enden, führt dies zu Variationen der Suffixe. Zum Beispiel verändert sich das wald-enzische Dual-Suffix /-xiʔ/ bei Wörtern, die auf einen glottalen Plosiv enden zu /-kiʔ/ oder /giʔ/:[10]

  • [tuka] „Axt“ → [tukaxiʔ] „zwei Äxte“,
  • [entʃiʔ] „Person“ → [entʃigiʔ] „zwei Personen“,
  • [mæʔ] „kegelförmiges Zelt“ → [mækiʔ] „zwei kegelförmige Zelte“.

Beide Prozesse finden auch im Tundra-Enzischen statt.[10]

Grammatik

Enzisch ist eine agglutinierende Sprache, in der ausschließlich Suffixe existieren. Es verwendet zum Teil aber auch einen fusionalen Sprachbau.

Nomen

Im Enzsichen werden Nomen für drei Numeri (Singular, Dual und Plural) und sechs bis acht Kasus (Fälle) dekliniert.[11][12] Nach Künnap handelt es sich bei dem Prolativ und Essiv/Translativ um eigene Kasus.[11] Laut Siegl liegen sie in ihren Eigenschaften hingegen zwischen Kasus und Derivation. So haben sie keine pronominale Form und der Prolativ ist im Wald-Enzischen sehr selten und erscheint produktiv nur auf Postpositionen.[13]

Kasusbedeutungen werden mit Suffixen an Nomen, Adjektiven, Pronomen und substantivierten Verben ausgedrückt. Diese werden stets mit numeralen Markern kombiniert:[11][12][13]

Wald-Enzisch Tundra-Enzisch
Singular Dual Plural Singular Dual Plural
Nominativ - -xiʔ - -xoʔ
Genitiv - -xiʔ -(ʔ) -xiʔ
Akkusativ - -xiʔ - -xiʔ -(ʔ) oder Vokaländerung
Lativ -d -xiʔnæʔ -xiðo -do -xiʔneʔ -xiðo
Lokativ -xVn -xiʔnæn -xine -xVn(V) -xiʔnene -xine
Ablativ -xVð -xiʔnæð -xito -xVð(V) -xiʔneðoʔ -xito
Prolativ -(m)on -(m)one
Essiv/Translativ -Vʃ -ɑe

Die Formen der Suffixe variieren, wenn der Wortstamm in dem glottalen Plossiv /ʔ/ endet (siehe den Abschnitt Phonologische Prozesse).[10]

Possession wird im Enzischen durch Genitiv oder Possessiv-Suffixe angezeigt. Im Nominativ, Genitiv und Akkusativ fusionieren die Suffixe für Kasus und Numerus mit den Possessiv-Suffixen und bilden neue Formen.[14]

Verben

Enzische Verben werden für Person und Numerus des Subjekts konjugiert. In manchen fällen kann auch der Numerus des Objekts markiert sein. Zusätzlich werden Verben für Tempus (Zeit), Aspekt und Modus markiert.[15]

Im Enzischen gibt es drei Arten der Konjugation: Subjekt-Konjugation (bei Siegl Konjugation I), Objekt-Konjugation (Konjugation II) und Reflexiv-Konjugation (Konjugation III). Subjekt-Konjugation ist die Standardform, die für die meisten transitiven und intransitiven Verben verwendet wird. Reflexiv-Konjugation wird für eine feste Gruppe von intransitiven Verben verwendet. Sie hat keine reflexive Bedeutung mehr. Die Objekt-Konjugation kann nur für transitive Verben verwendet werden. Sie tritt ansteller der Subjekt-Konjugation auf, wenn das Objekt das Topik des Satzes ist. Bei ihr wird neben Person und Numerus des Subjekts auch der Numerus des Objekts markiert.[16]

In den folgenden Tabellen sind die Suffixe für Subjekt- und Reflexiv-Konjugation gezeigt:[16]

Subjekt-Konjugation Wald-Enzisch Tundra-Enzisch
Singular Dual Plural Singular Dual Plural
1. Pers. -ðʔ -bj -baʔ -ðoʔ -jʔ -aʔ
2. Pers. -d -riʔ -raʔ -do -riʔ -raʔ
3. Pers. - -xiʔ - -xoʔ
Reflexiv-Konjugation Wald-Enzisch Tundra-Enzisch
Singular Dual Plura Singular Dual Plural
1. Pers. -ibj -ibj -inaʔ -ioʔ -inj -inaʔ
2. Pers. -idj -iðiʔ -iðaʔ -ido -idj -idaʔ
3. Pers. -iðʔ -ixiʔ -iðʔ -iðoʔ -ixoʔ -iðoʔ

Enzisch hat sechs Tempusformen: Futur, Vergangenheit im Futur, Aorist, Vergangenheit, Perfekt und Vorvergangenheit. Die Vergangenheit im Futur und Vorvergangenheit werden als Kombination des Vergangenheitsmarkers mit dem Futur- bzw. dem Perfektmarker gebildet. Die Aoristform ist unmarkiert. Je nach Verbbedeutung kann sie eine Gegenwarts oder eine zum Zeitpunkt des Sprechens abgeschlossene Handlung ausdrücken.[17] Zusätzlich zum Tempus gibt es auch Aspektmarkierung. Die wichtigsten Aspekt Formen sind nach Siegl: Durativ, Frequentativ, Delimitativ, Habitual, Inchoativ, Translativ-Resultativ.[18]

Der Suffix für die Vergangenheit folgt nach dem Konjugationssuffix. Die anderen Zeitformen stehen hingegen vor dem Konjugationssuffix.[17] In den folgenden Tabellen sind die Tempus- und Aspeksuffixe gezeigt:[17][18]

Tempus Wald-Enzisch Tundra-Enzisch
Futur -ða / -da -da / -ta
Aorist - -
Vergangenheit -sji
Perfekt -bi -bi
Aspekt Wald-Enzisch Tundra-Enzisch
Durativ -gu / -go -gu / -go
Frequentativ -ŋa / -r -ŋa / -r
Delimitativ -ita -ota
Habitual -(m)ubi -(m)obi
Inchoativ -ra -ra
Translativ-Resultativ -ma -ma

Syntax

Enzisch ist eine typische SOV-Sprache, die finite Verbform steht immer am Ende des Satzes. Das Objekt befindet sich stets im Umfeld des Wortes, zu dem es gehört. Adverbialpositionen sind kontextabhängig. Wenn das Adverb ausschließlich das Verb modifiziert, steht es direkt davor, wenn es den gesamten Satz modifiziert, kann es entfernt vom Verb stehen. Inversion kann im Enzischen vorkommen, was zur Folge hat, dass das Adverb dem Verb folgt. Zeitadverbien stehen üblicherweise am Anfang eines Satzes. Das Objekt steht üblicherweise näher am Verb als am Adverb. Attribute stehen grundsätzlich vor ihren Hauptwörtern, um den Unterschied zum Prädikat herauszustellen. Quantitative Attribute stehen für gewöhnlich vor den qualitativen.

Verbale Negation wird durch Kombination von Hauptverb mit vorangehendem teilweise auxiliarem Negativverb ausgedrückt, Komparative mithilfe von Adjektiven im Nominativ und dem zu vergleichenden Wort im Ablativ.

Interrogative können im Enzischen sowohl mit speziellen Interrogativwörtern als auch nur durch Intonation angezeigt werden.

Einzelnachweise

  1. Enets. In: Glottolog. Abgerufen am 4. August 2023 (englisch).
  2. a b Siehe Wagner-Nagy 2011, S. 1f
  3. Siehe Siegl 2013, S. 35
  4. a b Siehe Siegl 2022, S. 709f
  5. Siehe Wagner-Nagy 2011, S. 7f
  6. enf. In: ISO 639-3. SIL International, abgerufen am 2. August 2023 (englisch).
  7. enh. In: ISO 639-3. SIL International, abgerufen am 2. August 2023 (englisch).
  8. a b c d e f g h Siehe Siegl 2022, S. 712ff
  9. Siehe Künnap 1999, S. 10
  10. a b c d Siehe Siegl 2022, S. 714f
  11. a b c Siehe Künnap 1999, S. 13f
  12. a b Siehe Siegl 2022, S. 716f
  13. a b Siehe Siegl 2022, S. 722
  14. Siehe Siegl 2022, S. 718f
  15. Siehe Siegl 2022, S. 727–734
  16. a b Siehe Siegl 2022, S. 724ff
  17. a b c Siehe Siegl 2022, S. 726ff
  18. a b Siehe Siegl 2022, S. 728f

Literatur

  • Ago Künnap: Enets (= Languages of the World/Materials. Nr. 186). LINCOM EUROPA, München 1999, ISBN 3-89586-229-0 (englisch).
  • Tibor Mikola: Morphologisches Wörterbuch des Enzischen (= Studia Uralo-Altaica. Nr. 36). Szeged, 1995.
  • Д. С. Болина: Русско-єнецкий разговорник. Просвещение, Санкт-Петербург 2003, ISBN 5-09-005269-7.
  • И. П. Сорокина, Д. С. Болина: Энецкий-русско и русско-єнецкий словарь. Просвещение, Санкт-Петербург 2001, ISBN 5-09-002526-6.
  • И. П. Сорокина, Д. С. Болина: Энецкий словарь с кратким грамматическим очерком: около 8.000 слов. Наука, Санкт-Петербург 2009, ISBN 978-5-98187-304-1.
  • И. П. Сорокина: Энецкий язык. Наука, Санкт-Петербург 2010, ISBN 978-5-02-025581-4.
  • Florian Siegl: Materials on Forest Enets, an indigenous language of northern Siberia (= Suomalais-ugrilaisen seuran toimituksia. Nr. 267). Suomalais-Ugrilainen Seura, Helsinki 2013, ISBN 978-952-5667-45-5 (englisch).
  • Florian Siegl: The essive-translative in the Enets languages. In: Casper de Groot (Hrsg.): Uralic Essive and the Expression of Impermanent State (= Typological Studies in Language. Nr. 119). Kapitel 18. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam 2017, ISBN 978-90-272-6529-6, S. 427–460, doi:10.1075/tsl.119 (englisch).
  • Florian Siegl: The Enets languages. In: Marianne Bakró-Nagy, Johanna Laakso, Elena Skribnik (Hrsg.): The Oxford Guide to the Uralic Languages. Kapitel 36. Oxford University Press, Oxford 2022, ISBN 978-0-19-182151-6, S. 709–753, doi:10.1093/oso/9780198767664.003.0036 (englisch).
  • Beáta Wagner-Nagy: On the Typology of Negation in Ob-Ugric and Samoyedic Languages (= Suomalais-Ugrilaisen Seuran Toimituksia. Nr. 262). Suomalais-Ugrilainen Seura, Helsinki 2011, ISBN 978-952-5667-30-1 (englisch).

Weblinks