Karl Binding, um 1882

Karl Lorenz Binding (* 4. Juni 1841 in Frankfurt am Main; † 7. April 1920 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Rechtswissenschaftler mit dem Hauptarbeitsgebiet Strafrecht.

Leben

Karl Binding entstammte einer alteingesessenen Frankfurter Bierbrauerfamilie. Sein Vater Georg Christoph Binding (1807–1877) war Appellationsgerichtsrat und ordentlicher Professor in Basel. Karl Binding studierte 1860–1863 in Göttingen Rechtswissenschaft und Geschichte. Er wurde 1863 promoviert. Nach seiner Habilitation 1864 in Heidelberg war er Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Staatsrecht in Basel (1865), Freiburg im Breisgau (1870), Straßburg (1872) und von 1873 bis 1913 in Leipzig. Die Turnerschaft im Vertreter-Convent Istaevonia ernannte ihn zum Ehrenmitglied.

In den akademischen Jahren 1892/1893 und 1908/1909 war er Rektor der Universität Leipzig. Sein Rektorat von 1909 wurde auch in einem Gemälde von Eugen Urban zusammen mit den Dekanen festgehalten. Das Gemälde befindet sich noch heute im Rektoratsgebäude der Universität.

Karl Binding (Mitte) und die Dekane des Jubiläumsjahrs 1909

Die Stadt Leipzig ernannte ihn 1909 in seiner Funktion als Rektor des Universitätsjubiläums in Wertschätzung für die Universität zum Ehrenbürger. Ebenfalls 1909 erhielt er von der Universität Leipzig den Ehrendoktortitel.[1] Die Ehrenbürgerwürde wurde ihm am 19. Mai 2010 wegen seines, mit dem Psychiater Alfred Hoche zusammen verfassten, für die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktionen maßgeblichen Werkes Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form vom Leipziger Stadtrat aberkannt.[2]

Binding wurde 1920 auf dem Hauptfriedhof Freiburg im Breisgau bestattet.

Ruhestätte Bindings auf dem Hauptfriedhof Freiburg im Breisgau

Bindings Sohn Rudolf G. Binding war ein bekannter Schriftsteller.

Werk

Nach Binding sind es nicht die Strafgesetze, die von Verbrechern verletzt werden (im Gegenteil: ihre Handlungen erfüllen ja gerade die Tatbestandsmerkmale), sondern die – dem öffentlichen Recht angehörenden, von Strafgesetzen fundamental verschiedenen – „Normen“. Die Strafgesetze erlauben es aber immerhin, die Normen, die ihnen zugrunde liegen, zu erkennen (gedankliche Umwandlung in einen Befehl).

Bindings Normentheorie sieht das Wesen des Verbrechens in der Verletzung des staatlichen Anspruchs auf Gehorsam gegenüber den Normen als Sonderform des „Do ut des“. Da der Staat den Einzelnen durch die Rechtsordnung vor der Verletzung seiner Rechte schützt, kann der Staat vom Bürger auch die Respektierung der Rechtsordnung verlangen. Wer ein Verbrechen begeht, verletzt die entsprechende Norm und gefährdet die Autorität des Gesetzes. Da es Binding vor allem auf die Respektierung der Rechtsordnung ankam, bestand für ihn ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Auflehnung gegen das Recht. Eine Vorsatzstrafe sollte im Gegensatz zur Rechtsprechung nur dann greifen, wenn der Täter das Unrecht seiner Tat erkannt hatte (sog. Vorsatztheorie).

Um die Autorität des Gesetzes zu bewahren, bedarf es nach Binding der Strafe, worunter er eine vom Staat erzwungene Einbuße des Täters an Rechten oder Rechtsgütern verstand. Die Strafe und der Strafvollzug dienen nicht der Resozialisierung o. Ã¤., sondern allein der „Unterwerfung des Verbrechers“ unter die siegreiche Gewalt des Rechts. Wie und wozu die Strafe ansonsten vollzogen wird, interessiert Binding darüber hinaus allenfalls am Rande. Das bringt Binding in Konflikt mit der präventiv orientierten modernen oder soziologischen Richtung der Strafrechtswissenschaft um Franz von Liszt und dessen Konzept der „Zweckstrafe“, die im Gegensatz zur klassischen, an der Vergeltungstheorie festhaltenden Schule[3] steht.

Weiterhin ist Binding bekannt für den von ihm geprägten juristischen Vermögensbegriff, der im Rahmen der Betrugsstrafbarkeit für viele Jahre die juristische Diskussion um die Bestandteile des strafrechtlich geschützten Vermögens geprägt hat. Heute ist seine Auffassung hingegen weitgehend vom vermittelnden juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff verdrängt worden.[4]

In einem anderen Licht erscheint Binding in seiner gemeinsam mit Alfred Hoche verfassten Broschüre Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, die kurz nach Bindings Tod herausgegeben wurde. Darin sprechen sich die Autoren dafür aus, die Tötung unrettbar Kranker und Verwundeter sowie unheilbar „Verblödeter“ nach Maß und Form zu erlauben.[5] Das „absolut zwecklose Leben“ der „unheilbar Blödsinnigen“, die für ihre „Angehörigen wie für die Gesellschaft eine furchtbar schwere Belastung bilden“, war Binding zufolge weder von einem rechtlichen noch von einem sozialen, sittlichen oder religiösen Standpunkt betrachtet geschützt und daher auf Antrag zur Tötung freizugeben.[6]

Werke (Auswahl)

  • Das burgundisch-romanische Königreich (von 443 bis 532 n. Chr.) Eine reichs- und rechtsgeschichtliche Untersuchung.
    • Erster Band: Geschichte des burgundisch-romanischen Königreichs. Mit einer Beilage: Sprache und Sprachdenkmäler der Burgunden. Von Wilhelm Wackernagel. Leipzig 1868 (Der zweite Band: Die Rechtsentwicklung im … wurde zwar angekündigt, ist aber wohl nicht erschienen).
  • Die Normen und ihre Ãœbertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts. Vier Bände, Meiner, Leipzig 1872–1920; Neudruck Aalen 1965.
  • Die Gründung des Norddeutschen Bundes. Ein Beitrag zur Lehre der Staatenschöpfung. In: Festgabe der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Bernhard Windscheid, Duncker & Humblot, Leipzig 1888, S. 2–72 (Google Books).
  • Der Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849. Duncker & Humblot, Leipzig 1892 (Google Books).
  • Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, 2 Bände, Engelmann, Leipzig 1902–1905.
  • Die Ehre. Duncker & Humblot, Leipzig 1909 (Digitalisat).
  • Die Schuld im deutschen Strafrecht. Meiner, Leipzig 1919.
  • Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Zusammen mit Alfred Hoche. Postum, Leipzig 1920.
als Herausgeber
  • Deutsche Staatsgrundgesetze in diplomatisch genauem Abdrucke. Zu amtlichem und zu akademischem Gebrauche. Herausgegeben von Karl Binding. Verlag Wilhelm Engelmann, Leipzig.
    • Band I: Die Verfassung des Norddeutschen Bundes.
    • Band II (1893): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 und die Entwürfe der sogenannten Erfurter Unionsverfassung (März und April 1850) (Google Books).
    • Band III: Die Rheinbundakte.
    • weitere, die Verfassungen der einzelnen Länder betreffend.

Literatur

  • Wilhelm Haan: Karl Ludwig Binding. In: Sächsisches Schriftsteller-Lexicon. Robert Schaefer’s Verlag, Leipzig 1875, S. 24.
  • Fedja Alexander Hilliger: Das Rechtsdenken Karl Bindings und die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Duncker u. Humblot, Berlin 2018 (= Schriften zur Rechtsgeschichte, Band 182), ISBN 978-3-428-15241-4.
  • Armin Kaufmann: Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie. Schwartz, Göttingen 1954.
  • F. Limacher (Bern): Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. In: Internationales Ärztliches Bulletin. Nr. 12, Prag, Dezember 1934, S. 181–183 (zusammenfassende Rezension).
    • wieder in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Band 7: Internationales Ärztliches Bulletin. Jahrgang 1–6, 1934–1939. Reprint. Rotbuch, Berlin 1989.
    • weiterer Reprint: Götz Aly, Matthias Hamann, Jochen August, Peter Chroust, Klaus Dörner (Hrsg.), Mabuse-Verlag, Frankfurt 2009, ISBN 3-940529-74-5.
  • Ortrun Riha (Hrsg.): Die Freigabe der „Vernichtung lebensunwerten Lebens.“ Beiträge des Symposiums über Karl Binding und Alfred Hoche am 2. Dezember 2004 in Leipzig. Shaker, Aachen 2005, ISBN 978-3-8322-4633-4.
  • Jan Schröder: Karl Binding (1840–1920). In: Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hrsg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. 5. Auflage, Müller, Heidelberg u. a. 2008, S. 62–66.
  • Daniela Westphalen: Binding, Karl. In: Michael Stolleis (Hrsg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. C. H. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39330-6, S. 86 f.
  • Daniela Westphalen: Karl Binding (1841–1920). Materialien zur Biographie eines Strafrechtsgelehrten, Peter Lang, Frankfurt a. M. 1989, ISBN 978-3-631-40404-1.

Einzelnachweise

  1. ↑ Verzeichnis der Ehrenpromotionen. Archiv der Universität Leipzig, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 22. Januar 2021; abgerufen am 3. November 2020 (Ordnung nach Graduierungsjahr).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/geschichte.archiv.uni-leipzig.de
  2. ↑ Martin Otto: Der Unwert. Leipzig streicht Binding von der Ehrenbürgerliste, in: FAZ Nr. 107, 10. Mai 2010, S. 29.
  3. ↑ Susanne Hahn: Binding, Karl. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 181.
  4. ↑ Johannes Wessels, Thomas Hillenkamp: Strafrecht Besonderer Teil. 34. Auflage. Band 2, 2011, S. 259.
  5. ↑ Wolfgang Naucke: Einführung zu „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.
  6. ↑ Frank Häßler, Günther Häßler: 9. Die systematische Vernichtung „unwerten“ Lebens. In: Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit. Vom Narrenhäusl zur Gemeindepsychiatrie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York 2005, S. 67, ISBN 978-3-13-142531-7.

Weblinks

Commons: Karl Binding â€“ Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien